Muss ich mich jetzt ärgern?

Jetzt hat er mich auch erwischt, der Corona Virus. Zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Zwei Tage hat mich der Ärger gequält und dann habe ich ihn gehen lassen. Das war gar nicht so schwer.

Seit Beginn der Pandemie habe ich mich erfolgreich gegen das Virus gewehrt – oder hatte ich einfach Glück? Drei Tage vor dem Start unserer Jordanien Rundreise hatte ich Erkältungssymptome. Ich dachte, ich habe mich verkühlt – bei Regen und 10 Grad. Am Dienstag testete ich mich, weil am Mittwoch und Donnerstag zwei Präsenzseminare anstanden. Der Test war negativ. In der Nacht zum Mittwoch verstärkten sich die Erkältungssymptome und am nächsten Tag war der Test positiv. Das habe ich bisher noch nicht geschafft, ein Seminar mit 20 Personen zwei Stunden vor Beginn abzusagen. Am Samstag wollten wir in Urlaub fliegen, eine Woche Jordanien Rundreise. Wir hatten uns so darauf gefreut. Dann erfuhr ich zu allem Übel auch noch, dass die Reiserücktrittversicherung bei einer Corona Erkrankung nicht zahlt. Zu der Trauer über die verpasste Reise kam jetzt noch der Ärger über die Versicherung und ziemlich heftige Erkältungssymptome.

Dann habe ich mich gefragt: Muss ich mich jetzt ärgern? Ich kam zu dem Schluss: Worüber und wie lange ich mich ärgere, das entscheide immer noch ich. Meine Entscheidung: ich lasse es einfach sein. Ich akzeptiere, was ich eh nicht ändern kann. Ich lasse los, was ich eh nicht festhalten kann. Ich vertraue auf die Fairness der Versicherung und mache meinen Anspruch geltend. Ich mache mir jetzt keine Sorgen über etwas, das ich nicht weiß, ob es eintreten wird. Wie habe ich kürzlich gelesen: „Sorgen sind etwa so sinnvoll wie sich ein Pflaster auf eine Wunde zu kleben, die ich noch gar nicht habe.“ Wenn es soweit ist, kümmere ich mich um das Problem – falls es überhaupt eines wird. Also warum sich jetzt schon grämen?

Was bringt mir mein Ärger? Was bringen mir Sorgen? Ich fühle mich noch schlechter und es ändert an der Situation rein gar nichts. Es geht hier nicht darum, Gefühle zu unterdrücken. Es geht darum, die Gefühle zu akzeptieren. Denn Gefühle sind das, was uns Menschen ausmacht. Sie sind die Würze des Lebens, sie helfen uns, Entscheidungen zu treffen und prägen unser Verhalten. Während meiner Achtsamkeitsausbildung bin ich einem Gedicht begegnet, an das ich bei meinem Gefühlskarusell diese Tage oft denken musste: „Das Gasthaus“ von Rumi. Er lädt uns darin ein, alle Gefühle willkommen zu heißen, auch die schwierigen:

Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam dein Haus seiner Möbel entledigt.
Selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll,
vielleicht reinigt er dich ja für neue Wonnen.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt
denn alle sind zu Deiner Führung geschickt worden
aus einer anderen Welt.
Rumi

Das Gute an einem Gast ist, dass er wieder geht – und dann kommen neue Gäste. Es ist ein Kommen und Gehen – so wie auch Gefühle kommen und gehen. Es ist okay, sich zu ärgern. Es ist auch okay, den Ärger gehen zu lassen. Darf ich mir erlauben, einem Gast zu sagen, dass es mir gerade zu viel wird und ihn bitten, später zu kommen? Ich finde: Ja. Das ist auch dem Gast gegenüber fair, denn wer möchte denn bei jemandem zu Gast sein, dem es selbst nicht gut geht. Ich nicht.

Kann ich mir meine Gäste aussuchen? Nicht immer… aber das ist auch nicht schlimm. Wichtig ist, jeden Gast so zu akzeptieren, wie er ist. Ich darf Grenzen setzen. Ich entscheide, wie ich mit ihm umgehe. So ist das auch mit den Gefühlen, die durch Gedanken und Bedürfnisse entstehen. Mein Ärger über die Versicherung entspringt dem Gedanken, dass ich sie noch nie in Anspruch genommen habe und ich es unfair finde, wenn sie nun nicht zahlt. Ich könnte aber auch denken, dass es meine Verantwortung war nachzufragen, in welchen Fällen die Versicherung zahlt oder eben auch nicht. Ich könnte auch denken, dass es im Leben größere Katastrophen gibt. Wenn es mir gelingt, meine Gedanken und Gefühle achtsam und mitfühlend wahrzunehmen, sie zu akzeptieren, sie willkommen zu heißen, dann kann ich sie auch wieder loslassen und gehen lassen.

Ich bin jetzt wieder gesund, ich habe die Infektion gut überstanden. Die ruhige Woche mit viel Schlaf und Zeit für mich hat mir gutgetan. Ich freue mich auf meine Arbeit, die mir viel Sinn und Freude schenkt. Ich freue mich, nach der häuslichen Isolation auf Treffen und gemeinsame Aktivitäten mit meiner Familie und meinen Freunden. Ich freue mich darauf, jeden Tag etwas Neues zu erfahren und zu lernen.

Wenn ich das so schreibe, bin ich jetzt einfach dankbar und glücklich. Diese Gäste bewirte ich besonders gerne und gut, aber ich weiß, auch sie werden wieder gehen – und andere werden kommen. Ich werden sie alle begrüßen, bewirten und ehrenvoll behandeln - bis auch sie wieder gehen.